Zum einen sind die Ursachenkonstellationen und die Phänomenologie der Störungen deutlich verschieden, zum anderen aber das Selbsterleben der Patienten sowie Art und Inhalt ihrer Problemberichte häufig gleichförmig und ähnlich. Für die meisten Patienten stehen das Erektionsversagen selbst und die damit verbundenen Gefühle von Angst, Peinlichkeit, Scham, Verzweiflung, Wut und Enttäuschung ganz im Vordergrund ihres Erlebens. Wenngleich der Umgang mit diesen Gefühlen individuell verschieden ist, sind die Auswirkungen einer wiederholt auftretenden oder chronifizierten Erektionsstörung auf das seelische wie körperliche Befinden des Mannes fast immer weitreichend und sehr belastend. Das Selbstwertgefühl des Mannes, das in hohem Maße an sexuelle Funktionsfähigkeit und Potenz gekoppelt ist, wird regelmäßig und meist erheblich eingeschränkt. Es kann zu ausgeprägten Rückzugs- und Vermeidungstendenzen kommen, die ihrerseits, wie die Störung selbst, die Partnerbeziehung belasten, zu sozialen oder beruflichen Schwierigkeiten, zu Depressionen oder anderen psychischen bzw. psychosomatischen Beschwerden führen können.
Da die sexuellen Maßstäbe der Männer nach wie vor und inzwischen auch bis ins höhere Lebensalter von einem ausgeprägten Leistungsgebot und von den Mythen und Verzerrungen des „Pornomodells“ der Sexualität [18] geprägt sind, fühlt sich der erektionsgestörte Mann gegenüber diesem Bild hoffnungslos im Hintertreffen, als Versager und „looser“. Bei Männern, die in festen Partnerbeziehungen leben, verschiebt sich die Balance, das sexuelle Equilibrium des Paares [9], selbst wenn die Partnerin verständnisvoll und kooperativ ist. Bei Männern ohne feste Partnerin kommt oft das Gefühl auf, keine neue Partnerbeziehung mehr eingehen zu können, da man die sexuellen Ansprüche der Frau ohnehin nicht erfüllen könne und sich ihr gegenüber wie ein „Betrüger“ fühlen würde.
Die beschriebenen Gefühle und der Circulus vitiosus, der von der Erektionsstörung ausgelöst wird, sind so machtvoll, dass vielen Männern der Zugang zu den tieferliegenden Ursachen für ihre Problematik versperrt bleibt. Es ist in der klinischen Praxis immer wieder auffällig und manchmal geradezu verblüffend, dass Patienten zwischen belastenden Lebensereignissen oder schweren persönlichen bzw. partnerschaftlichen Konflikten oder Krisen und ihrer sexuellen Problematik keinerlei Beziehung herstellen wollen oder können, während dieser Zusammenhang für den Arzt geradezu auf der Hand liegt. Konfrontiert man den Patienten mit dieser Diskrepanz, dann werden die belastenden Faktoren nicht selten bagatellisiert, und es wird deutlich, dass der Mann von sich erwartet, seine Funktionsfähigkeit, sein Penis müsse „immun“ gegen äußere Einflüsse sein und habe automatisch zu funktionieren.
Der Sexualtherapeut Zilbergeld weist ebenfalls auf diesen Umstand hin und geht noch weiter, wenn er sagt, dass viele Männer ihren Penis durch eine Art „Kaltstart“ zum Laufen bringen wollen und ausblenden, dass eine Erektion etwas mit sexueller Erregung, Intimität, Sicherheit und der Erfüllung bestimmter persönlicher Bedürfnisse und Bedingungen zu tun hat [18]. Zahlreiche Patienten in unserer Sprechstunde berichten gar, dass es ihnen eigentlich gar nicht um ihre Sexualität und ihren sexuellen Genuss geht, sondern sie hier sind, um wieder in die Lage versetzt zu werden, die sexuellen Bedürfnisse und Wünsche ihrer Partnerin befriedigen zu können. Zu diesem Bild passt schließlich auch noch die Erfahrung, dass die Mehrzahl der Patienten von einer somatischen Verursachung ihrer erektilen Dysfunktion überzeugt sind und nicht selten enttäuscht oder ungläubig reagieren, wenn die organische Diagnostik keine Befunde erbracht hat. Eine körperliche Verursachung passt besser in das Konzept des „psychischen Automatismus“ sexuellen Funktionierens, verspricht eine weniger aufwendige Behandlung und ist mit der Hoffnung verknüpft, sich nicht mit seelischen oder Partnerkonflikten auseinandersetzen zu müssen.
Entsprechend der eingangs angesprochenen Spaltung des symptomatologischen Erscheinungsbilds erektiler Dysfunktionen stellt sich für den klinisch tätigen Arzt oder Psychologen dieses Störungsbild tatsächlich sehr heterogen und vielfältig dar. So unterscheiden sich die Erektionsprobleme anhand einer Reihe verschiedenster Dimensionen, die es für die diagnostische Einschätzung zu berücksichtigen gilt. Eine nur auf den ersten Blick banale Frage betrifft den Sachverhalt, ob tatsächlich eine Erektionsstörung im Vordergrund der Probleme steht. Bei einer Reihe von Patienten besteht die sexuelle Funktionsstörung ganz oder überwiegend in einer Ejaculatio praecox, und nicht selten sehen wir Patienten, bei denen im Zentrum der Problematik eine Minderung der 6 Kap. 1 Symptomatologie und Epidemiologie erektiler Dysfunktionen Appetenz steht, was von den betroffenen Männern selbst aber fast nie als Kernschwierigkeit gesehen wird.
Neben der Dimension der Störungsart wird die Symptomatologie entscheidend durch die sog. formalen Beschreibungsmerkmale geprägt, die allein einen guten diagnostischen Leitfaden für eine Störungsanamnese abgeben können. Nach 3 formalen Kriterien lassen sich Erektionsstörungen unterscheiden, nämlich nach:
Eine ätiologische Kategorisierung allein aufgrund der Analyse der Symptomatologie ist zwar bei einer Reihe von Fällen möglich, sollte aber in der Regel erst nach einer genaueren Befunderhebung und Diagnostik vorgenommen werden, die in diesem Buch umfassend beschrieben ist. Einem Vorschlag von Levine [8] folgend kann man unter Beachtung der dichten Interaktion somatischer und psychischer Faktoren eine grobe Einordnung in 4 „generische Typen“ erektiler Dysfunktionen vornehmen:
Diese Grobklassifizierung ist dann weiter zu untermauern und zu differenzieren durch die Identifizierung der spezifisch wirksamen Ursachen, wobei 3 Gruppen von Daten zu integrieren sind:
Der klinische Grundprozess umfasst also 3 Stufen:
Damit lässt sich nicht nur das individuelle Störungsbild des Patienten genau bestimmen, sondern in den meisten Fällen auch ein passender Behandlungsplan erstellen.
Die Frage nach der Häufigkeit einer bestimmten Erkrankung ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam, u. a. zu Zwecken der Legitimation des eigenen Tuns, aus gesundheitspolitischen Überlegungen, zur Begründung verstärkter Forschungsbemühungen, zur Einwerbung von Drittmitteln bzw. Fördergeldern usw.
Für den Patienten kann es eine gewisse Entlastung bedeuten, wenn er erfährt, dass sehr viele Männer von den gleichen Problemen betroffen sind. 1.2 Epidemiologische Daten 7 Bei der Betrachtung der entsprechenden Zahlen ist die Prävalenz erektiler Dysfunktionen in der Allgemeinbevölkerung zu unterscheiden von Zahlen, die anhand klinischer Stichproben erhoben wurden und den Anteil verschiedener Störungsbilder an der Klientel unterschiedlicher professioneller Einrichtungen kennzeichnen. Hinsichtlich der Prävalenz sexueller Störungen waren über Jahrzehnte die Ergebnisse der berühmten Kinsey-Studien aus den 40er-Jahren die einzig zuverlässigen Datenquellen. In Kinseys Stichprobe betrug die Prävalenz erektiler Dysfunktionen weniger als 1 % bei den unter 30-jährigen, weniger als 3 % bei den unter 45-jährigen, knapp 7 % bei den 45- bis 55-jährigen, 25 % bei den 65-jährigen und bis zu 75 % bei den 80-jährigen, wobei die Repräsentativität der Kinsey-Daten aufgrund der geringen Zahl der Befragten bei den über 55-jährigen eingeschränkt ist [2]. Spector u. Carey [14] untersuchten 1990 insgesamt 23 Studien zur Prävalenz sexueller Dysfunktionen und fanden Prävalenzzahlen zwischen 4 und 9 % für Erektionsstörungen. Lendorf [7] befragte eine Gruppe von 272 dänischen Männern im Alter von 30–79 Jahren nach verschiedenen Dimensionen erektilen Versagens und fand Impotenz (definiert als Unfähigkeit, den Geschlechtsverkehr zu beginnen oder vollenden) bei insgesamt 4 % seiner Stichproben, 11 % bei den über 60-jährigen und 10 % bei den über 70-jährigen; ein subjektives Gefühl erektiler Insuffizienz im Vergleich zu ihrer Altersgruppe hatten im übrigen 20 %. Bei einer Studie an 331 niederländischen Männern im Alter von 20 - 65 Jahren kam Diemont [3] auf 2,7 % Erektionsstörungen in der gesamten Stichprobe.
Die am häufigsten zitierte und ergiebigste neuere Untersuchung zur Prävalenz von Erektionsstörungen ist die „Massachusetts Male Aging Study“ (MMAS [4]), eine groß angelegte Studie zum Zusammenhang von Alter und Gesundheit bei Männern, in deren Rahmen sich verschiedene Items eines Fragebogens auf die sexuelle Aktivität und Funktion bezogen und von 1290 Männern beantwortet wurden. Mit Hilfe einer „Kalibrierungsstichprobe“ von 303 in einer urologischen Klinik untersuchten Patienten mit erektilen Dysfunktionen wurde der Grad der Erektionsstörung in der nicht klinischen Hauptstichprobe berechnet. Die Ergebnisse zeigen, dass 52 % der 40- bis 70-jährigen eine zumindest leichtgradige Störung der Erektionsfähigkeit aufwiesen, und zwar 17 % eine minimale, 25 % eine moderate und 10 % eine komplette Impotenz. Die Ergebnisse der MMAS bestätigten die starke Altersabhängigkeit erektiler Dysfunktionen: zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr verdreifachte sich der Prozentsatz kompletter Impotenz von 5 auf 15 %, die Wahrscheinlichkeit moderater Impotenz stieg von 17 auf 34 %, während der Anteil minimaler Impotenz mit 17 % konstant blieb. Nur 32 % der 70-jährigen beschrieben sich als frei von Erektionsstörungen. In den bezüglich des Faktors Alter kontrollierten Daten zeigten sich im Vergleich zur Gesamtstichprobe (9,6%) signifikant höhere Prozentsätze kompletter erektiler Dysfunktionen bei Männern, die wegen Diabetes (28 %), Herzkrankheit (39 %) und Bluthochdruck (15 %) in Behandlung waren. Entsprechend waren die Prozentsätze für komplette Impotenz bei Männern, die hypoglykämische Substanzen (26 %), antihypertensive Medikamente (14 %), Vasodilatatoren (36 %) und Kardiaka (28 %) einnahmen, ebenfalls signifikant erhöht. Aus ihren Daten errechneten die Autoren, dass ca. 18 Mio. US-amerikanischer Männer im Alter von 40–70 Jahren unter Erektionsstörungen leide, die daher ein ernsthaftes und quantitativ erhebliches Gesundheitsproblem darstellen. 8 Kap. 1 Symptomatologie und Epidemiologie erektiler Dysfunktionen Versucht man diese Daten auf bundesdeutsche Verhältnisse zu übertragen, müsste man von Zahlen ausgehen, die zwischen 4 und 6 Mio. aller Männer liegen dürften.
Bei der abschließenden Betrachtung einiger Zahlen, die anhand klinischer Stichproben erhoben wurden und Aussagen zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe und zur Verteilung der verschiedenen Störungsbilder erlauben, ist der gerade bei sexuellen Dysfunktionen ausgeprägte Unterschied zwischen einem als Problem beklagten Zustand und einer Störung zu beachten, für die tatsächlich professionelle Hilfe gesucht wird. Diese Diskrepanz ist bei Erektionsstörungen beträchtlich, noch ausgeprägter aber bei der Ejaculatio praecox. In einer dänischen Untersuchung [13] an Männern um die 50 Jahre berichteten 40 % über sexuelle Funktionsprobleme verschiedener Art, aber nur 7 % fanden diese Probleme für ihr Alter ungewöhnlich, und nur 5 % waren bereit, sich behandeln zu lassen. Bei der Interpretation dieser Daten sind wir weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen; sie reichen von der Annahme, dass es sich bei Erektionsstörungen um ein ungenügend diagnostiziertes und therapiertes Gesundheitsproblem handele [12], bis hin zu der Hypothese, dass es vielen Männern und ihren Partnerinnen gelinge, sich mit minimalen oder moderaten Beeinträchtigungen der sexuellen Funktion zu arrangieren. Zahlen aus den USA zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe zeigen, dass 1 985 525 000 ambulante Arztkontakte wegen erektiler Dysfunktionen berechnet wurden, das waren 0,2 % aller ambulanten Arztbesuche. Aus diesen Zahlen und den Prävalenzdaten der MMAS ergibt sich [12], dass jährlich zwischen 2,6 und 5,2 % der betroffenen Männer professionelle Hilfe suchen. Schließlich lässt sich verschiedenen Veröffentlichungen entnehmen, dass Erektionsstörungen in den speziellen Behandlungseinrichtungen zur Diagnose und Behandlung sexueller Störungen den höchsten Anteil bei den männlichen Störungen, oft sogar der männlichen und weiblichen Störungen insgesamt, ausmachen [n]. In der Sexualambulanz der Hamburger Abteilung für Sexualforschung waren Erektionsstörungen sowohl Mitte der 70er Jahre als auch Anfang der 90er-Jahre mit 67 % bzw. 60 % jeweils das häufigste Symptom bei den männlichen Ratsuchenden [1]; auch in der sexual medizinischen Sprechstunde des Universitätsspitals Zürich waren erektile Dysfunktionen mit 46 % das häufigste Hauptsymptom, gefolgt von der Ejaculatio praecox mit 34 % [5]. Alle heute verfügbaren Daten lassen somit erkennen, dass erektile Dysfunktionen sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch im klinischen Bereich sehr häufig sind und tatsächlich ein signifikantes Gesundheitsproblem darstellen.
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